Ich sage es jetzt mal in Steads Worten in breitem Italoakzent: “Oh my god, they drive me crazy!“ Das erste von vier Konzerten in Italien, das in einem keine Ahnung wie coolen Club in Milano stattgefunden hätte, ist zwei Tage vorher grundlos abgesagt worden. Toll! Stead, unser Mann vor Ort, der uns schon letztes Jahr bei der Gipsy Attacke beigestanden hat, hat aber alle Hebel in Bewegung gesetzt und uns ultrakurzfristig einen Ersatzauftritt besorgt, der zwar niemals so lukrativ wie der Abgesagte sein wird aber lieber das als gar nichts. Egal was man von den Italienern hält, aber in der Musikszene herrschen hier noch Zustände, von denen wir nur träumen können. Wir können in einem Kaff vor Milano in einem Studentenclub namens Il Circolo spielen. Da spielen heute Abend zwei Bands und wir können uns noch davor pflanzen und eine halbe Stunde einheizen. Dafür erhalten wir einen Platz am nach italienischer Manier gedeckten Tisch. In Italien ist es üblich, dass vor dem Konzert alle Mitwirkenden an einer Tafel sitzen und zusammen essen bis genug. Es ist immer sehr familiär und niemand geht hier hungrig oder durstig auf die Bühne. Sonst „Mama mia!“ Um 21.45 beginnt unsere halbe Stunde. Wir sind von der langen Fahrt dermassen von der Rolle dass ich mir bis zum Moment, in dem ich die Bühne betrete eigentlich nur vorstellen kann, ins Bett zu gehen als ein Konzert zu klopfen. Doch vom ersten Schlag an bin ich hellwach und wir toben uns aus. Wir sind schliesslich Musiker und nicht internationale Taxifahrer. Das hier ist die einzige halbe Stunde an diesem Tag, in der wir Musik machen können, also geniessen wir es entsprechend. Die Leute, die hier den Abend verbringen, verteilen sich an die zahlreichen Tische in der etwas übermotiviert grossen Halle vor uns. Der Club war wohl früher mal eine Lagerhalle oder ein Supermarkt und jetzt hat man eine ziemlich fette Lautsprecheranlage reingestellt und es gibt regelmässig Konzerte umsonst. Klar ist, dass die Leute eigentlich hier sind, um zusammen abzuhängen und es spielt gar keine Rolle, ob eine Band spielt oder ob eine Platte läuft. Diesem Umstand zum Trotz kriegen wir allerdings ziemlich viel Aufmerksamkeit und die abgefahrene Jazz Rock Gruppe aus Luxemburg, die nach uns spielt, spielt zwar in einem Takt 100 mal mehr Töne und ein mehrfaches virtuoser als wir, scheint aber damit den Draht zum Publikum, den wir aufgebaut haben eher zu zerschneiden als weiterzuspinnen.
Stead, der die jetzt einen zivilisierten Haarschnitt, der besser zu seiner Freundin passt trägt und den ganzen Abend nur Sprüche gegen Schlagzeuger von sich gibt, lässt uns danach in seiner Wohnung in Milano pennen. Diesmal soll der Aufenthalt bei ihm nicht wieder zum gleichen Desaster führen wie letztes Jahr, weshalb wir unser gesamtes Equipment in die Wohnung hochtragen. Stead hat uns diesmal auch noch in einer weiteren Angelegenheit geholfen, nämlich bei der Abwicklung unseres Kurierdeals mit dem Coodenamen „Turtles“. Ja, wir hatten unter anderem äusserst spezielle Mitfahrgelegenheiten von Köln nach Milano: Drei kleine Schildkröten. Für die machte Stead telefonisch den Übergabetermin in Milano klar. Es ist unglaublich, wie lange ein italiener dafür an der Strippe hängen kann. Es ist schön, Stead und seinen Mitbewohner unter normalen Umständen wiederzusehen und wir lernen die beiden von ihrer entspanntesten Seite kennen.
Das nächste Konzert findet dann in Pavia statt. Ich glaube es ist Freitag. Ich habe mittlerweile die Übersicht über Wochentage verloren. Der Club heisst Spazio Musica und ist Tourtagebuchlesern ebenfalls vom letzten Jahr bekannt. Pavia, eine Stunde südwestlich von Milano hat einiges an Schönheit zu bieten, deswegen sehen wir auch zu, dass wir zeitig da sind. Pizza, Capuccino. Im Club tauchen wir pünktlich und ohne Hilfe des Navigationsgeräts auf. Zu pünktlich, denn hier kommt man grundsätzlich zu spät um pünktlich zu sein. Alles läuft dann wie gehabt, ausser dass der Pavia Effekt von letztem Jahr ausbleibt. Die Leute lassen sich nicht zum Tanzen bewegen, obwohl es eine Gruppe junger Männer vorne rechts erst wohlwollend versucht. Das Problem ist eindeutig, dass die Mischung des Publikums nicht stimmt. Es sind deutlich mehr Männer da und die anwesenden Frauen haben alle ihren Hengst dabei. Da gehen die Typen vorne rechts leider leer aus und ihre Tanzbeine waren sowieso ein bisschen verkrampft. Trotzdem ist die Stimmung freundlich und die Show geht gut über die Bühne. Nach dem Konzert verziehen wir uns in die Wohnung des Clubbesitzers um mal wieder richtig zu schlafen. Die letzten beiden Nächte waren einfach zu kurz und wir haben noch mehr als die Hälfte der Kilometer vor uns. Peter probiert sich aber erst noch durch die abgelaufenen Fressalien im Kühlschrank und stellt fest, dass es schon was wahres hat, wenn ein Italiener sagt, die Sachen im Kühlschrank seien nicht mehr essbar. Immerhin liegt das Verfalldatum des Mozzarellas einen Monat zurück.
Am nächsten Tag brechen wir Richtung Rom auf und kriegen es als erstes mit einer Schrecksekunde zu tun, als wir das Ziel, Alatri, im Navi eingeben: Ankunftszeit 23.45 Uhr! Nach nervösem herumdrücken finde ich dann raus, dass die Fahrt so lange dauerte, wenn man kostenpflichtige Autobahnen meiden würde. Wir haben aber vor die ungeheuren Kosten auf uns zu nehmen und nehmen den schnellsten Weg. Das nächste Problem mit dem Navi bahnt sich dann auf halber Strecke an: Irgendwie ist die Steckbuchse für die Stromversorgung kaputt gegangen. Rom ohne Navi? Niemals! Mit Gaffa Tape (Sehr starkes Faserklebeband, Ausrüstungsgegenstand Nr.1 eines Musikers auf Tour) lässt sich zum Glück alles reparieren. Erst finde ich aber mein Gaffa nicht, was meiner Stimmung gar nicht gut kommt, denn ohne diese Rolle kann ich nicht arbeiten, nein, nicht leben!! Doch peter hat auch Gaffa und dann führt uns das Navi 80 Kilometer westlich von Rom durch die Pampa, abseits der Autobahn über Pässe durch die rauchgetünchte einbrechende Nacht. Um 20 Uhr erreichen wir das Bergkaff Alatri und glauben uns schon fast nicht mehr auf dem Europäischen Kontinent. Wir steuern unseren Tourbus durch die engen Gässchen der alten Stadt und finden diesmal den Club trotz Navi nicht. Ratlos parken wir den Bulli (so nennt der Deutsche den Tourbus, für mich klingt das eher nach Erntefahrzeug, aber egal) auf einem Platz unterhalb der Stadtmauer und wollen den Club zu Fuss suchen gehen. Kaum sind wir aus dem Bus ausgestiegen, ruft jemand „Piiter“. Der Clubbesitzer Nilo, ein glatzköpfiger, strammer junger Mann steht oben an der Mauer und winkt uns zu sich. Wie lange der da wohl schon gewartet hat? Und woher wusste er, dass wir hier parken? Unwichtig. Er empfängt uns sehr herzlich, hat sich offenbar sehr gefreut, flankiert von zwei indiemässig gestylten Typen, die gerade Zigaretten rauchen. Ehm, halt mal, die sind doch allerhöchstens 12 Jahre alt! Nilos Dada Club, scheint so etwas wie ein Jugendtreff zu sein. Aber was ist mit dem immensen Alkoholsortiment hinter der Bar? Also entweder kennt die Jugendschutzbehörde Alatri nicht oder in Italien gibt es keinen Jugendschutz. Zwei höchstens 14 Jährige Girls bestellen sich einen reichhaltigen Cocktail und stürzen ihn schneller runter als ich mein Schlagzeug aufbauen kann und darin bin ich mittlerweile wirklich sehr schnell. Nach dem Soundcheck werden wir erneut wohl verpflegt und danach beginnt einmal mehr das lange Warten auf den Auftritt. Es ist Samstagabend und in der Stadt ist Brautschau. Die Teenies stolzieren ihre Runden durch das Städtchen und halten sich nie länger als 15 Minuten unter einem Dach auf. Es ist ein nervöses Geläufe und obwohl ausser unserem Konzert in der Stadt heute eigentlich nichts los ist, ist der Club fast leer, als wir um 23 Uhr spielen sollten. Wir zögern den Beginn des Konzerts raus und als wir dann endlich anfangen, hat es zwar etwas mehr Leute aber das Rein-Raus Spiel nimmt kein Ende. Es nervt ziemlich, wenn man das Gefühl hat, niemand hört einem zu und Peter beginnt wieder mit der Kölner Masche „ich behandle mein Publikum wie einen Misthaufen“. Da dieses Thema mit Peter immer noch nicht diskutiert wurde, bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Bandleader meine Entrüstung mit aggressivem Spiel zu zeigen und versaue dadurch unabsichtlich einen wichtigen Akzent. Sehr unprofessionell von mir und sofort reisse ich mich zusammen. Die Message scheint aber angekommen zu sein und der Mann reisst sich ebenfalls zusammen, wir wenden das Blatt und das Ganze entwickelt sich doch noch zu einer langen und unterhaltsamen Show. Die Menschentraube (Durchschnittsalter 15 Jahre) vor der Bühne wächst mit der Zeit und am Ende, als wir die allerletzte Zugabe spielen wollen, kommt Nilo zur Bühne und bittet uns „In Your Eyes“ zu spielen. Natürlich erfüllen wir ihm diesen Wunsch worauf er wie ein kleines Kind strahlt und den Song mit seiner Freundin in den Armen liebkosend geniesst. Danach bedankt er sich in italienischer Manier bei uns. Kiss Kiss.
Nach dem Konzert setzen wir uns an einen Tisch abseits der Leute und Peter muss eine Moralpredigt zum Thema „Wie behandelt man ein schwieriges Publikum“ von mir und Lucka über sich ergehen lassen. Irgendwann werden wir uns einig und gesellen uns wieder zu Nilo, der den Laden dicht machen will und irgendetwas von Cappuccino stammelt. Wir packen unseren Kram in den Bus und folgen Nilos Wagen durch die Gegen. Erst muss er seine Freundin nach Hause bringen, dann sucht er die ganze Umgebung von Alatri nach einer, jetzt (Sonntagmorgen 03.30 Uhr) noch offenen Cappuccino Bar ab. Eigentlich wollen wir nur noch pennen, aber wir wollen der Gastfreundschaft nicht Knebel zwischen die Beine werfen und trinken in Frosinone Cappuccino mit Nilo und seinem Kumpel, der ziemlich angetan ist von Peters Malerei. Die Beiden scheinen total Fan von Peter zu sein und sind total happy, dass sie mit uns abhängen können. Scheint hier auch üblich zu sein, mitten in der Nacht noch Kaffee trinken zu gehen. Nilo bringt uns dann zu sich nach Hause zum Übernachten. Der Hahn kräht schon, als wir auf der Olivenfarm, wo er bei seinen Eltern wohnt, ankommen. Als wir uns ausgeschlafen haben (Milch im Kaffee macht es möglich) und uns gegen 14 Uhr verabschieden wollen, bittet uns Nilo erneut zu Tisch und Mama fährt einen ordentlichen Italienischen Dreigänger auf. Unglaublich lecker! Gegen 16 Uhr bedanken und verabschieden wir uns dann doch, obwohl wir uns gut vorstellen könnten, hier noch eine Woche zu bleiben. Bevor wir nach Rom fahren, sehen wir uns noch ein wenig Alatri an, dass auf jeden Fall auch sonst eine Reise wert wäre.
Die Fahrt nach Rom würde etwa eine Stunde dauern, dauert aber länger, wenn man die Staubewältigungstechnik der Italiener noch nicht drauf hat. Erneut profitiere ich von einer Lektion in authentischem italienischen Fahrstil. Wir schaffen es knapp rechtzeitig beim Lian Clup aufzutauchen, wo man uns schon erwartet. Der Club ist ziemlich cool und hier spielen gewöhnlich schon eher bekanntere Bands. Da wir heute keinen lokalen Support haben und dazu Sonntag ist, dürfen wir wohl nicht mit dem grössten Publikumsaufmarsch aller Zeiten rechnen. Aber es ist trotzdem toll, hier spielen zu können. Der Club, der ein gemütliches Jazzclubambiente hat, ist gut ausgerüstet, der Mischer ist sehr professionell und er mischt alles andre als jazzig. Er sagt zum Beispiel nicht, Peter soll seinen Gitarrenamp runter drehen. Nein, er stellt noch ein Mikrofon ran, um ihn gegebenenfalls verstärken zu können. Wir müssen uns beim Soundcheck sehr beeilen, denn jemand hat den Club für ein Geburtstagsfest vor unserem Konzert reserviert und darum muss der Lärm um 20 Uhr vorüber sein. Die Dame, die Geburtstag hat, trudelt dann auch pünktlich ein und macht sich mit ihren sehr gut aussehenden Freundinnen vor der Bühne über einen lecker bestückten Snacktisch her, von dem die Bedienung eben Lucka verscheuchen musste. Wir werden derweil an einem anderen Tisch genau so lecker verpflegt. Die darauf folgende Wartezeit vertreiben wir uns damit, am Navi und an der Setliste herumzuschrauben. Die Operation am Navi gelingt, die an der Setliste nicht. Mit bangenden Gesichtern schielen wir immer wieder zum Eingang, vergebens, denn da kommt einfach lange überhaupt niemand. Jedes Mal, wenn jemand von der Geburtstagsparty den Mantel holt, um draussen rauchen zu gehen, denken wir schon, das wars, wir können zusammenpacken. Aber zum Glück kommen die immer wieder rein und je später der Abend tauchen doch noch vereinzelt Leute auf, so auch Awa, die Frau, die uns das Ganze hier arrangiert hat. Während wir uns mit Awa und ihrem Freund, der uns heute auch seine Wohnung zum Übernachten zur Verfügung stellt unterhalten, schreibe ich schnell eine absolut neue Setliste. Wir können hier nicht unser übliches Programm durchziehen. Wir müssen das Ganze auf eine nicht zu lange Greatest Hits Kollektion zusammenstauchen, die aber trotzdem noch ihre Höhen und Tiefen hat. Schwierig, schwierig. Ich protestiere vor dem Konzert auch noch lauthals gegen die verpennte Stimmung, die unter uns gerade herrscht. Mit den schlimmsten Befürchtungen im Hinterkopf (Ich kenne ja diese Römerinnen nicht, aber Frauen, die da wo ich her komme so rumlaufen wie diese Cicas hier, suchen in der Regel das Weite, sobald sie eine elektrische Gitarre hören) gehe ich auf die Bühne und hoffe wie immer das Beste, was dann zur Rettung des Abends auch Eintrifft. Peter legt von A bis Z eine perfekte Show hin. All das, was wir ihm gestern angeprangert haben, setzt er um, als hätte er ein Jahr dafür geübt. Ok, wenn man das bestaussehendste Publkum vor der Bühne hat, ist das schon mal eine saubere Vorlage. Er bringt es aber fertig, dass das kleine Publikum nicht noch kleiner wird. Die Damen können kaum mehr still sitzen und sind entzückt von der überraschenden Darbietung, fotografieren, klatschen, tänzeln, lachen, wollen Zugabe. Heilfroh, dass wir die Party verlängert und nicht beendet haben, kommen wir von der Bühne und Peter baut, nachdem er natürlich seine Fanartikel an die Frau gebracht und Mailadressen gesammelt hat, sofort seine Equipment ab. Was ist denn jetzt los? Lucka und ich blicken uns fragend an. Hat jemand über Nacht Peter ausgewechselt? Normalerweise ist sein Kram der letzte, der nach dem Konzert die Bühne verlässt. Egal, rasch räumen wir den Bus voll, denn wir müssen schlafen gehen. Morgen fahren wir nach Bern, was ja nicht gerade um die Ecke ist und wir müssen noch einen Parkhauswächter bestechen, damit unser Van voll mit wertvollem Equipment bis morgen früh sicher ist.
Montag früh machen wir auf dem Weg nach Bern ein Italy In 8 Hours Sightseeing. Kolosseum Rom, Petersdom, Espresso in Florenz, Pizza in Parma und schon haben wir den Schweizer Nebel erreicht und lassen Pizza und Margherita hinter uns. Italien hat die volle Punktzahl erreicht und ich weiss jetzt, wie man mit dem Auto schneller von A nach B kommt.
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Nov 09